Hier ist der komplette Text des Vortrags von Maria Schmidt, der am 20. März 2025 gehalten wurde. Weitere Informationen finden sich auf der Veranstaltungsseite.
Was hat Radikalfeminismus mit Tieren zu tun?
oder: “The Sexual Politics of Meat, Milk, Cheese and Butter”
ein persönliches Plädoyer für Tierrechtsfeminismus
3. Mechanismen struktureller und massenhafter Verdrängung
4. Werte und Verhalten im Widerspruch – am Beispiel von Milchprodukten
5. Werte und die Realität im Widerspruch
Frauen, die mich kennen, wissen, dass ich mit meinem angeblichen Tierfimmel ganz schön moralisch sein kann. (Übrigens kann ich das auch mit meinem Radikalfeminismus. Dazu sagte meine Mutter einmal: “Du gehst mir auf die Nerven mit deiner Feministerei.” Sie hatte ein neues Wort erfunden.) Natürlich hat beides auch mit Moral zu tun. Keine von uns findet es angenehm, wenn ihr eine moralisch kommt, ich weiß das und werde versuchen, es heute zu vermeiden. Aber es ist nicht einfach, auch das wissen die meisten, die sich einer Sache verschrieben haben. Bei mir sind das die Tiere, vorher waren es jahrzehntelang die Frauen und davor Kinder – aber natürlich gehören alle zusammen. “Alle 5 Sekunden verhungert ein Kind.” “Die Weltlandwirtschaft könnte 12 Milliarden Menschen ernähren. Das heißt, ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet.” Das sind die Worte des ehemaligen Sonderberichterstatters Jean Ziegler.
Schon in den 50er Jahren konnte ich als Kind in Berlin an keinem Bettler vorbeigehen, ohne meine Eltern, die immer in berufsmäßiger Eile waren, um ein paar Groschen anzubetteln. Ungerechtigkeit fand ich demnach als Mädchen schon schwer erträglich: Warum haben die kein Bett zum Schlafen? Und bis heute kann ich nicht begreifen, wie es sein kann, dass Männer auf der ganzen Welt dem andern Geschlecht, also uns Frauen, alles mögliche verbieten konnten und immer noch können. Dass Macht, Gewalt, Manipulation, Tradition und Religionen eine große Rolle spielen, weiß ich, klar. Noch weniger allerdings verstehe ich, warum Frauen sich das weltweit bieten lassen, und nicht nur das: Sondern sie machen bisweilen auch mit, sie stellen sich sogar nicht selten auf die Seite der Täter. Wir wissen auch von Frauen, die immer wieder zum Gewalttäter zurückgehen.
Kein Tier würde das tun: Gegen seine eigenen existentiellen Lebensinteressen zu handeln! (außer leider manche Hunde, weil sie auf Abhängigkeit vom Menschen gezüchtet sind). Aber sogenannte Nutztiere können gar nicht weggehen, sie sind immer gefangen. Ganz, ganz selten gelingt es ihnen, sich aus der unerträglichen Zwangslage aus eigener Kraft zu befreien. Niemals würden sie in den Schlachthof oder in die Mastanlage zurückkehren, nur weil sie plötzlich auf sich allein gestellt sind und im Wald umherirren. Die Überlebenschancen sind dann gering, aber deutlich höher als in der Mast oder im Schlachthof. Zum Glück gibt es inzwischen Lebenshöfe, die sich z.B. nach einem Verkehrsunfall, in den ein Tiertransporter verwickelt war, auf den Weg machen, um die wenigen Überlebenden, die schnell genug waren zu flüchten, aufzuspüren, um ihnen ein Leben zu ermöglichen, das ihnen entspricht.
Die Ferkel, die ihr anfangs gesehen habt, wurden als sogenannte Kümmerlinge aus einer Schweinemast gerettet; die Arbeiter hätten sie sonst totgeschlagen – als Ausschuss. Ich habe im Land der Tiere, wo sie seit Jahren ein artgerechtes Leben genießen, ein Jahr lang mitgeholfen, und fand es spannend, Schweine aus der Nähe kennenzulernen, nachdem ich zuvor ein Jahr lang in Niedersachsen auf dem Land gelebt hatte – mitten in der größten Dichte von Industrietiermastanlagen, wo ich nie auch nur ein Grunzen gehört, geschweige denn ein einziges Schwein von den Millionen, die dort gefangen gehalten werden, gesehen habe. (Ein Viertel der zum Tod verurteilten Schweine werden bei uns in nur vier Fabriken geschlachtet.)
Die Abspaltung des Menschen – und damit war und ist in der Regel noch heute der männliche Mensch gemeint – aus dem Kosmos aller Lebewesen als etwas ganz Besonderes, als Krone der Schöpfung, als vernunftbegabtes und von Gott auserwähltes Geschöpf, sich alle andern Untertan zu machen, ist ein wesentlicher Kern männlicher Herrschaft, unter der Frauen, Kinder, Tiere und auch andere Lebewesen leiden, weil sie als das grundsätzlich und ganz Andere definiert und behandelt werden. Das eint sie zwangsweise, verbindet sie aber auch im positiven Sinn. Die Andern werden als minderwertig markiert und stehen immer eine oder mehrere Stufen tiefer. Diese künstliche Trennung gehört zur Basis, auf der sich das herrschende System Ausbeutung organisiert. Heute Abend erlaube ich mir, diese willkürliche Mauer, die leider sehr hoch sein kann, in meiner Argumentation einzureißen. Und damit bin ich natürlich nicht die erste, aber ich gehöre zu einer Minderheit, die sich ständig rechtfertigen und erklären soll, vor allem dann, wenn ich aus solchen Erkenntnissen auch die Konsequenzen zu ziehen gewillt und bereit bin, und die sind selten nur angenehm.
Seit noch gar nicht so langer Zeit gelten Frauen als vollwertige Menschen und das auch noch längst nicht überall (Ich muss das hier nicht ausführen). Ebenso wurden Tiere als rein instinktgesteuerte Wesen (lange galten sie sogar als eine Art Maschinen) angesehen und nicht als empfindungsfähige, lebensfreudige, auch planende und denkende Wesen, denen eigentlich Rechte zustehen, zumindest das Recht auf ein unversehrtes Leben, wenn sie menschlichen Kontakt haben. Und ansonsten favorisiere ich folgendes Motto: “Tiere einfach in Ruhe ihr Leben leben lassen.” Ein Slogan der Tierrechtsbewegung lautet “Artgerecht ist nur die Freiheit”! So hat auch die von mir sehr geschätzte Hilal Sezgin, die sich unermüdlich (nicht nur) für Tiere einsetzt, ihr philosophisches Grundlagenwerk von 2013 genannt. Es ist absolut lesenswert.

Ich habe eine Tante, die sicher eine sehr gute anthroposophische Ärztin war, aber keine Ahnung von Ernährungsfragen und die Wohnung voller ungesunder Süßigkeiten hat. Sie begrüßt mich jedes Mal mit der Ankündigung, dass die vorbereitete Gemüsesuppe extra für mich vegan sei. Butter oder Sahne gehöre da eigentlich unbedingt rein, auch Wiener Würstchen. Olivenöl oder überhaupt gute Speiseöle hat sie nicht im Haus. Frau kann das alles rührend finden, aber es ist unangenehm, als eine zu gelten, die eine Extrawurst braucht. Meine Tante ist Pazifistin, aber ihre anthroposophische Weltsicht bezieht sich auf die menschliche Spezies und schließt die Tiere und eine gewaltfreie Ernährung nicht ein. “Frauenrechte sind Menschenrechte.” “Menschenrechte sind unteilbar.” würde ich grundsätzlich gern erweitern in “Gerechtigkeit ist unteilbar.”
1. Kapitel: Recht und Gesetz
Was Milliarden Tieren auf der ganzen Welt straffrei angetan wird, wäre in den meisten Fällen strafbar, wenn es Menschen erleiden müssten – und zwar permanent. Es ist interessant, dass es z.B. zu Homers Zeiten, also um 700 v.u.Z., keinen eigenen Begriff für Tiere gab, sondern diese firmierten entweder als Qualle, Maus, Pferd oder Spatz und zusammen mit den Menschen unter dem Sammelbegriff Lebewesen. Wir im christlichen Abendland hingegen haben uns leider so sehr daran gewöhnt, dass es angeblich zwei Kategorien von Lebewesen gibt, nämlich Tiere und Menschen, sodass nicht nur die Sprache, sondern unsere gesamten Rechtssysteme darauf eingestellt wurden. Das Buch “Tiere denken” bringt es schon im Klappentext auf den Punkt: “Es gibt zwei Kategorien von Tieren. Die eine glaubt, dass es zwei Kategorien von Tieren gibt, und die andere hat darunter zu leiden.”
Der 1.§ des sog. Tierschutzgesetzes als Teil des deutschen Grundgesetzes lautet:
“Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.”
Schön wär’s! Von Ulrike Meinhof gibt es den zutreffenden Satz: “Die Würde des Menschen ist antastbar.” (analog dazu: Was machbar ist, kann gemacht, was lesbar ist, kann gelesen werden.) Im Grundgesetz steht aber “Die Würde des Menschen ist unantastbar.”, und angeblich alle, auch Frauen, können sich darauf berufen. Nahezu täglich könnten wir Frauen Klage einreichen, weil die Realität dem widerspricht. Die gesamte Porno- und ein Großteil der Werbeindustrie müssten sofort im Orkus verschwinden. Ich kürze jetzt den 2.§ ab (insgesamt besteht das sog. Tierschutzgesetz aus 22 Paragraphen):
“Wer ein Tier hält oder betreut, muss es seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend verhaltensgerecht unterbringen und darf die Möglichkeit des Tieres zu artgemäßer Bewegung nicht so einschränken, dass ihm Schmerzen oder vermeidbare Leiden oder Schäden zugefügt werden.”
Ich glaube, wir wissen alle, dass es kaum einen Bereich gibt, in dem Gesetz und Wirklichkeit so weit auseinanderklaffen.
Auch Vergewaltigung ist ein Verbrechen, das fast immer straffrei bleibt: Nur 10% werden angezeigt (Frauen haben gute Gründe dafür) und von diesen 10% werden wiederum nur 10% der Täter verurteilt! (90% der Männer behaupten, die Tat sei einvernehmlich gewesen. Kriminologen sprechen vom perfekten Verbrechen.)Sogenannte Nutztiere werden also nicht als Wesen mit Würde, Gefühlen, Lebensanspruch und Lebensrecht, sondern als Besitz und Ware behandelt. Auch das kommt uns bekannt vor. (Übrigens sterben jedes Jahr 13 Millionen Schweine schon vor der Schlachtung, sind also Abfall!) Dumm für die Tiere, dass sie deswegen nicht weniger fühlen und leiden. Übrigens haben Tierfabriken staatliche Kontrollen im Durchschnitt nur alle 20 Jahre zu befürchten, und die AmtstierärztInnen, die ihre Arbeit ernst nehmen, stoßen mit ihren Anzeigen häufig auf Granit, weil plötzlich individuell nachgewiesen werden muss, dass einem Tier Schaden zugefügt wurde, obwohl in der Ausbeutungs- und Ausnutzungslogik die Tiere ja überhaupt nicht individuell wahrgenommen werden sollen. Die Amtstierärztin Anya Rackow, die aufgrund ihrer gewissenhaften Arbeit angefeindet wurde, hat sich 2014 in Bad Mergentheim das Leben genommen. Hühner, Schweine, Puten, Rinder, Kaninchen, Gänseund viele andere Lebewesen erleiden in Mastanlagen und Schlachthäusern unerträgliche Qualen. Ohne das Aufdecken von Tierschutzverstößen durch Undercoverrecherchen von Tierrechtsgruppen würde ihr Leid niemals an die Öffentlichkeit gelangen. Die Verstöße sind allerdings die Regel, Ausnahmen gibt es kaum.
Ich möchte euch heute Abend möglichst wenig mit Zahlen behelligen, doch ein Vergleich zwischen Tieren und Menschen ist hier angebracht und bringt die bodenlose Ungeheuerlichkeit des Tierkonsums kurz ins Bewusstsein: Wie viele Menschen haben jemals auf der Erde gelebt? Was meint Ihr? (100 Milliarden)(ohne ins Smartphone zu gucken!) Und wie viele Tiere werden jährlich ermordet? Was meint ihr? (150 Milliarden) Wenn wir die gezüchtete Wachstumsgeschwindigkeit der Hühner mit Menschen vergleichen, dann würde ein Kind im Alter von zwei Jahren 158 kg wiegen! So ein 6 Wochen junges totes Huhn, das eigentlich 12-15 Jahre leben könnte, gibt es an jeder Straßenecke zu kaufen. Und wenn die deutsche Bevölkerung in der gleichen Geschwindigkeit sterben würde, in der wir Tiere schlachten lassen, wären alle Menschen in Deutschland nach nur zwei Monaten tot.
Ich komme jetzt auf meinen persönlichen Werdegang zurück. Nachdem ich mich Anfang der 90er Jahre zum ersten Mal mit Fernsehreportagen über das industrielle System von Tierausbeutung und über die Aktionen von TierrechtlerInnen konfrontiert sah, ließ mich das Thema nicht mehr los. Eines der Bilder, die sich mir einbrannten, war das, wie Männer auf eine gehunfähige Kuh einschlugen und sie mit einem Bagger an einem Bein hochzogen. Ihr hing die Zunge heraus; sie war nicht tot. Und ich hatte auch einmal Rinderzunge gekauft, zubereitet und gegessen und wurde von meinen Gästen, einem schwulen Paar, auch noch mächtig dafür gelobt! Silke Ruthenberg war damals mit Mitte 20 die Vorreiterin, die mir die Augen geöffnet hat mit ihren spektakulären Protest- und Befreiungsaktionen. Nur leider konnte ich mit meinem neuen Wissen in meinem feministischen Freundinnenkreis nicht Fuß fassen. Ich wurde aber Mitfrau bei Animal Peace, dem Verein, deren Vorsitzende Silke Ruthenberg heute noch ist, und spendete über Jahre ziemlich viel Geld. Man kann auch sagen, ich versuchte, mich von aktiver Verantwortung freizukaufen.
Eine meiner langjährigsten Freundinnen ist seit einem Schlüsselerlebnis mit 12 Jahren – ihr Lieblingskaninchen wurde als Mahlzeit serviert – konsequente Vegetarierin. Ab und zu gibt es zwischen uns (moralische) Unstimmigkeiten: Ich als inkonsequente Veganerin und sie als konsequente Vegetarierin. Ich wäre mit 12 nicht im Traum auf die Idee gekommen, Fleisch grundsätzlich zu verweigern, auch wenn ich mir nie viel daraus machte, und um nicht fettes Fleisch essen zu müssen, legte ich mich sogar mit meinem Vater an (und spuckte es dann heimlich aus). Aber nur aus Ekel, nicht weil ich an ermordete Tiere dachte. Damals griff also in meinem Kopf schon die Trennung von Fleisch und Tier, womit ich jetzt zum Thema Sprache komme. Aber zuvor eine Anekdote aus dem Alltag: Eine Freundin regt sich auf: “Guck dir doch mal die vielen Zusatzstoffe an, die in dem veganen Zeug drin sind.” Stimmt, in den Fertigprodukten. Aber nicht mehr als in nichtpflanzlichen Fertigprodukten!
2. Kapitel: Die Sprache
Die Wahrheit wird verschleiert: Meine Freundin, die Vegetarierin, sagt, wenn ihr Fleisch angeboten wird, “Ich esse keine toten Tiere.”, was ja der Wahrheit entspricht, nicht mehr und nicht weniger. Eine Fleischesserin, mit der wir im Hotel waren, meinte daraufhin, das sei tragisch. Wir beließen es dabei, fragten aber viel später eine andere, wie sie das gemeint haben könnte. “Als Provokation, weil sie sich provoziert fühlte”, war die Antwort. Die nackte Wahrheit zu sagen (nämlich dass Stücke von getöteten Lebewesen auf dem Teller liegen, ansehnlich mit Salat und Soße garniert), empfinden viele Menschen als unangemessen; sie fühlen sich gestört oder sogar angeklagt. Wenn aber Sprache verschleiert statt Sachverhalte zu verdeutlichen, hat das eine Funktion, und meistens keine gute. In der Ankündigung nenne ich den Feminismus, den ich vertrete, Tierrechtsfeminismus. Vielleicht ist das ähnlich unklug wie der Name “Feministische Partei – Die Frauen” oder “Tierschutzpartei”, denn sofort wird assoziiert, dass es “nur” um Frauen oder “nur” um Tiere ginge, was ja gar nicht stimmt. Vielleicht sollten wir, wenn wir Feminismus und Tiere zusammendenken, von globalem Feminismus sprechen.
Frauen und Tiere werden sprachlich nicht selten vermengt und verglichen, und das immer negativ: – “dumme Gans”, “blöde Kuh, “läufige Hündin”. Auf tierische Beleidigungen wird zurückgegriffen, und zwar so gut wie immer auf weibliche Tiere. Frauenverachtung und die Abwertung von Tieren gehen eine ungute Verbindung ein, indem die Gewalt gegen Tiere als Metapher dazu benutzt wird, um Frauen zu erniedrigen . In der Film- und erst recht in der Pornobranche beschreiben Schauspielerinnen die Art, wie ein Regisseur mit ihnen umspringt, bisweilen so: “Er behandelte mich wie ein Stück Fleisch”, will heißen “wie ein seelenloses Ding”, “wie ein Tier, das umgebracht wurde.” Tiere haben keine Freiheit, sich zu wehren, und Frauen nutzen die Freiheit, nein zu sagen nicht oder sie haben sie nicht.
Es gibt auch viele Beispiele dafür, wie mithilfe von Sprache Tatsachen verharmlost werden: Belegen meint die Zwangsbesamung, also im Grunde eine Vergewaltigung, bekannt ist eher decken. Meistens dringen Männer tief und brutal in die Vagina der Kuh ein. Wenn ich bisweilen von “Tiere ermorden oder umbringen” spreche, werde ich vorwurfsvoll angeguckt: Das heißt sachlich “töten”. Das Wort schlachten, das eigentlich für Tiere reserviert ist und wie ein Handwerk klingt (wozu es jahrhundertelang auch gehörte), wird für Morde an Frauen benutzt, wenn diese besonders brutal sind. Der Begriff “Tierwohl” für Haltungsabstufungen müsste “Tierqual” heißen, denn es geht nicht um Wohl, sondern um ökonomische Imagepflege. Und warum empfinden wir saufen und fressen als Beleidigung bei Menschen, bei Tieren aber als angemessen, obwohl es um dasselbe geht?
Warum ist ein toter Mensch eine Leiche, Kadaver aber ein totes Tier. “Der Begriff Kadaver ist unpersönlich, da er für einen Körper verwendet wird, dessen Identität nicht wichtig ist”, lese ich im Internet. Wieso heißt der Nachwuchs von Tieren nicht Kinder, sondern Junge? Warum werden Tiermütter trächtig, müssen werfen und dürfen nicht stillen? Wenn wir aber von einer trächtigen Frau sprechen würden, wäre das sexistisch. Und immer mal wieder mache ich Frauen darauf aufmerksam, dass ich es unangemessen finde, Schweine zu beleidigen, wenn brutale Männer nach ihnen benannt werden.
Bevor wir zum nächsten Kapitel kommen, berichte ich wieder aus meinem Alltag: Am 8. März hatte ich einen kurzen Dialog, der mir zu denken gibt. Eine Bekannte liebt es, sich in Form eines wunderschönen und sehr auffälligen Mantels in Pelz zu hüllen. Sie habe nichts anderes zum Anziehen, behauptet sie. Ich erfahre, dass sie echte Silberfüchse trägt; ich war so fassungslos, dass ich nach der Anzahl der dafür ermordeten Füchse nicht mehr fragte. Sie liebe Tiere, ergänzt sie noch. Das sagen ja viele Menschen, und insbesondere Männer, die ihre Frauen quälen, behaupten im arroganten Brustton der Überzeugung, dass sie ihre Frau lieben. Der Mantel könnte aus 100 toten Tieren bestehen. Das ist ein extremes Beispiel, aber entgegen landläufiger Meinung sind auch die allgegenwärtigen Tierhäute, genannt Leder, in der Regel kein Abfallprodukt, sondern eine der wichtigsten Stützen der Fleisch- und Milchindustrie.
3. Kapitel: Mechanismen struktureller und massenhafter Verdrängung
Die Sozialpsychologin Melanie Joy hat in ihrem Buch “Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen” eine mich völlig überzeugende Theorie entwickelt, die besagt, dass hinter all dem Grauen eine Ideologie steckt: Sie nennt sie Karnismus (vom lateinischen caro und carnis für Körperteile). Sie hat dazu viele Untersuchungen gemacht, die alle beweisen, dass die menschliche Wahrnehmung entscheidend dafür ist, dass wir Tiere je nach Land, Kultur und Religion in unterschiedliche Kategorien einteilen: In Europa gilt als barbarisch, wer Hunde und Katzen isst, im Islam ist es verboten, Schweine zu essen und in Indien gelten Kühe als heilig, daher nicht essbar. Diese karnistische Ideologie tut also genau das, was unter menschlichen Wesen als rassistisch und sexistisch gilt: Sie unterwirft Tiere einem Wertesystem: Die einen sind essbar, die andern nicht. Ich lese einen kurzen Ausschnitt aus ihrem Buch: “Du bist zum Essen eingeladen, und da du weder Vegetarierin noch Veganerin bist, freust du dich über das zarte Fleisch des Geschnezelten und fragst nach dem Rezept. “Als erstes nimmst du ein Kilo Golden-Retriever-Fleisch, gut mariniert, und dann…” Wir sind eine erfolgreich manipulierte Verdrängungsgesellschaft.


Neulich war ich auf der Beerdigung einer Tierschützerin. Beim Essen im Restaurant, altmodisch genannt “Leichenschmaus”, saß eine Bekannte neben mir, die sich einen ganzen Teller voll Kalbfleisch bestellte. (Die Spezialität heißt vitello tonnato, Kalb mit Thunfisch.) Ich gehe davon aus, daß sie kein Kalb vor sich sah, das der Mutter entrissen wurde, auch keines, das auf der Wiese neben seiner Mutter graste oder ermordet wurde, und auch nicht, daß sie mich provozieren wollte. Aber ich dachte an die Kuhbabys. Es ist ja nicht so, daß sie mir nicht auch schmecken könnten bzw. früher geschmeckt haben. Aber es fällt mir schwer und vor allem will ich es auch gar nicht mehr, so zu tun, als gäbe es da keinen Zusammenhang. Ich will diese Wahrnehmungsstörung und auch die Verdrängung nicht mehr.Sie steht im Widerspruch zur Empathie. Und dann kam bei mir auch feministische Empörung hoch: Im patriarchalischen System, das Frauen grundsätzlich für minderwertiger hält, werden wir Frauen zu MitTäterinnen an anderen Lebewesen, die – gemäß der männlichen Hierarchie – unter uns stehen und noch minderwertiger sind als wir selbst. Ausbeutung und Gewalt gegen Schwächere lehnen Feministinnen ja grundsätzlich ab. Weshalb sollten wir dann die Gewalt gegen andere Lebewesen gutheißen und auch noch (aktiv?) mittragen oder dem zumindest gleichgültig gegenüber stehen?
Gelehrte und andere Männer haben vor allem im 19. Jahrhundert “ganz wissenschaftlich” Frauen als minderbemittelt, zu schwach, ja geistig und körperlich unreif und zu vielem unfähig erklärt, auf die Stufe von Kindern und Schwachsinnigen, also von Unmündigen, gestellt, um männliche Macht und Privilegien zu rechtfertigen, zu erhalten und zu festigen. Ich erspare uns jetzt Beispiele; es ist so hanebüchen und absurd, was sich der männliche Geist ausgedacht hat, daß wir darüber eigentlich nur lachen können, wenn es nicht so ernst wäre und auch heute noch Folgen hätte. Dicke, viel gelesene Wälzer hießen zum Beispiel “Über den psychologischen Schwachsinn des Weibes”. Und das Zitat eines Wissenschaftlers auf einem Kongress um die Jahrhundertwende fällt mir gerade ein: “Kein Mensch kann nur von Gemüse leben. Außer vielleicht Frauen.”
Zurück zur Gegenwart: Kaum eine von uns, auch wenn sie keinen emotionalen Bezug zu Tieren hat, denkt wohl, dass wir auf Tiere gar keine Rücksicht zu nehmen brauchen. Dennoch spielen in der sogenannten Nutztierhaltung die Bedürfnisse, ja das pure Leben der Tiere gar keine Rolle. Und wenn doch einmal, dann ausschließlich als wirtschaftlicher Faktor. Und in der Regel wissen wir das, auch wenn wir es nicht wissen wollen. (Das ist doch höchst ungewöhnlich: Meistens wissen wir etwas nicht, wollen es aber gerne wissen und bemühen uns darum oder auch nicht.)
Als Bettina Jarrasch von den Grünen als Kandidatin für das Bürgermeisteramt in Berlin gefragt wurde, was ihr Lieblingsessen sei, kam ihre Antwort prompt: “Vollkornbrot mit ganz dick Butter.” Daraufhin habe ich recherchiert: Bei der Herstellung von einem Kilogramm Butter entstehen rund 25 Kilo CO2-Äquivalente . Das sind alle klimaschädlichen Gase zusammen. Bei Rindfleisch sind es 15kg und mehr. Der Grund für den extremen Wert: Für die Produktion von Butter mit einem Milchfettanteil von mindestens 80 Prozent braucht man sehr viel Milch von vielen Kühen, die bei der Verdauung von Kraftfutter aus brasilianischem Soja große Mengen Methan ausstoßen: ein Klimagas, das für die Atmosphäre 25-mal schädlicher ist als Kohlendioxid.
4. Kapitel: Werte und Verhalten im Widerspruch – am Beispiel von Milchprodukten
Wenn sich unsere Werte nicht mit unserm Verhalten decken, bereitet uns das ja immer ein gewisses moralisches Unbehagen. Im Fall des Konsums von Nahrungsmitteln aus Tierkörpern verändern wir die Wahrnehmung unseres Verhaltens in der Regel so, dass es scheinbar zu unseren Werten passt. Am Beispiel von “BIO” versuche ich, den Widerspruch aufzuzeigen. Lange habe auch ich alles, was aus Milch von Kühen, Ziegen und Schafen stammt, also Käse, Sahne, Joghurts, Quark, Butter und Vollmilchschokolade und ähnliches nur gekauft, wenn “bio” draufstand. Mein Gewissen war in jenen Jahren diesbezüglich ziemlich rein; dafür hatte ich ja schließlich auch deutlich mehr bezahlt. Ich glaubte doch tatsächlich, dass es den Tieren, von denen ich aß und trank, gut gehe. Bis ich mir reichlich spät endlich klar machte, dass das Säuglingsmilch ist.
Kühe, auch wenn sie Milchkühe heißen, haben ja nur Milch, wenn sie ein Baby geboren haben. In manchen Kinderbüchern steht heute noch, dass wir Kühen Gutes tun, wenn wir sie melken, sonst würden ihre Euter weh tun.Dabei kommt die Hälfte der Milch von schwangeren Kühen, denn nach der Geburt werden sie so schnell wie möglich wieder zwangsbesamt. Und wenn sie ausgedient haben, wird aus ihnen Hackfleisch gemacht. Weil der Markt für Biomilch, Biokäse, Biosahne, Biojoghurt, Bioquark und Biobutter viel größer ist als der Markt für Bio-Kalbfleisch, landet auch das Kind einer Biokuh, das seiner Mutter nach ein paar Tagen oder Wochen entrissen wird, bei den üblichen Mästern und Schlächtern, auch wenn wir das nicht glauben wollen. Denn inzwischen hat sich rumgesprochen, wie furchtbar die Trennung von Mutter und Kind ist. Auch Betriebe, die mit “artgerechter Tierhaltung” werben, arbeiten eng mit der Fleischindustrie zusammen. Es gibt dafür leider genug Beweise. Die Ausbeutung der reinen Pflanzenfresserin Kuh ist aber auch in Biobetrieben mehr oder weniger unsichtbar. Auch hier ist die Basis Gewalt, die wir ja im Grunde ablehnen. Viele feministische Frauen üben sich in GFK, also in gewaltfreier Kommunikation. Warum nicht auch in GFE, gewaltfreier Ernährung?
Die erlernte psychische Betäubung hat also auch bei uns (ernährungs)bewusst lebenden Frauen großen Erfolg. Das perfide ökonomische System hat die unglaublich sanften Kühe zu Hochleistungsmaschinen gezüchtet, damit sie xmal mehr Milch geben als von der Natur vorgesehen und zudem dauerschwanger gemacht werden. Durch die körperlich extrem belastende Milchproduktion und das jahrelange Melken leiden die Kühe unter schmerzhaften Euterentzündungen (Mastitis). Eiter ist in der Milch häufig nachweisbar, und übrigens auch Kotspuren. Alle weiblichen Säugetiere säugen, nur dass die Milch eben entsprechend den Bedürfnissen ihrer Babys sehr unterschiedlich zusammengesetzt ist. Wenn also von Laktoseintoleranz gesprochen wird, ist das eine körperliche Abwehrreaktion. Dennoch wird Kuhmilch vom Staat als angebliches Grundnahrungsmittel steuerlich mit 7% bevorzugt; auf Pflanzenmilch entfallen 19%!
Ich zitiere gekürzt aus einem Buch, das ich erst vor ein paar Tagen geschenkt bekam: “Ursprünglich gab es Göttinnen-Kuhkulte, die schöpferische Allmacht, Kraft und Stärke repräsentierten. Lange danach erst kamen Götter-Stierkulte auf. Heute ist ihnen alles Göttlich-Heroische weggenommen, und auch auf der Weide sehen wir riesige angezüchtete Euter, die jede Bewegung zur Qual werden lassen. In Zeiten, die noch mutterrechtlich geprägt waren, symbolisierte die Kuh mit ihrem gehörnten Kopfschmuck die Schöpferin des Alls und die alles umfassende Muttergottheit. In Indien war das die Urmutter Kali … und in Skandinavien war die Kuh Schöpferin und Nährerin der Welt und die Mutter des Sternenfirmaments. Sie wurde als Mondkuh dargestellt, aus deren Euter sich, Milch ergießend, Sterne, Länder und Menschen formten. Unsere Milchstraße hat hier ihre mythologischen Wurzeln. ” (Maria Rollinger, “Milch besser nicht”, S. 30f.) Ich möchte dieses sehr fundierte Buch allen empfehlen, die glauben, Milch und die unübersehbare Palette all der Produkte, die man aus ihr macht und die immer zahlreicher werden, seien für unsere Gesundheit von höchstem Wert.

In einer Radiosendung zum Thema Kaffee macht sich die Moderatorin lustig: Immer häufiger werde sie in Cafés gefragt, welche Milch sie bevorzuge. Sie könne das gar nicht verstehen, denn es gäbe doch nur eine richtige Milch. Alles andere sei ja gar keine Milch. Das strotzt nur so vor Unwissenheit oder Ignoranz. Ich vermute eher letzteres. Wenn sie wenigstens aufgeklärt hätte, wie es dazu kam, dass laut einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2010 Milch immer aus Eutern kommen muss. Auch menschliche? Vermutlich wären die meisten Frauen empört, wenn ihre Brüste Euter genannt würden. Auch Mandel-, Liebfrauen-, Kokos, Scheuer- und Sonnenmilch? Nein, die ausnahmsweise nicht. Aber die Säuglingsmilch von Kühen (und auch von Ziegen und Schafen, deren Milch vorzugsweise für Käse benutzt wird), hat einen sogenannten “Bezeichnungsschutz”. Die Moderatorin hätte die HörerInnen auch darüber informieren können, dass das höchste Gerichtsurteil die Wettbewerbsfähigkeit von Tiermilcherzeugnissen schützt, weil der Profit, der mit – Zitat: “normaler Eutersekretion” – gemacht wird, nicht nachlassen darf. Die Erdnussbutter oder der Fleischkäse mussten sich nicht umbenennen.
5. Kapitel: Werte und die Realität im Widerspruch
Ob alle Frauen für sich und ihr Geschlecht ein freies, selbstbestimmtes, von Männern unabhängiges Leben wollen, kann ich nicht beurteilen; manchmal zweifel ich daran, wenn ich z.B. lese, dass nach wie vor weltweit mehr als 200 Millionen Frauen genitalverstümmelt werden (übrigens auch bei uns!). Das war schon vor 40 Jahren so, als ich allein und mit anderen Frauen versuchte, darüber aufzuklären und dagegen anzukämpfen. Leider machen Frauen dabei mit, sei es aus religiös oder anders motivierten Traditionen, aus Zwang, Angst, Unwissenheit und Abhängigkeit. Die Zahlen haben sich überhaupt nicht verändert; sie sind teilweise sogar gestiegen. “Hört auf, eure Töchter auf die Schlachtbank zu führen” ist ein Artikel im Spiegel überschrieben über ägyptische Frauen. 90% von ihnen ist ihre Klitoris und mehr weggeschnitten worden – die perfekte patriarchale Kontrolle über die weibliche Lust. Immer geht es um Macht und Kontrolle über Weiblichkeit.
Aber zurück zur alltäglichen und strukturellen Gewalt in Deutschland, die in keinster Weise zu den allgemein anerkannten Werten einer Gesellschaft wie der unseren passt, die sehr viel auf Ideale wie Zivilisation, Gewaltfreiheit und Moral hält. Wenn wir den Spieß mal umdrehen und uns vorstellen, dass gültige Werte der Realität angepasst würden, dann würde z.B. das Grundgesetz ganz anders klingen müssen. Das auszuführen, würde jetzt zu weit führen. Eine Übereinstimmung von Werten und Wirklichkeit kommt so selten vor, dass ich mich manchmal frage, ob demokratische Werte deshalb so hoch gehalten werden, weil sie von der Realität ablenken sollen. Außerdem braucht die Justiz häufig Jahre, um Gerechtigkeit walten zu lassen, wenn überhaupt. Ja, wir leben in einem Rechtsstaat, aber ist der auch gerecht?
Melanie Joy hat in ihrem Buch “Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen” auf die Hartnäckigkeit der drei Ns hingewiesen: normal, natürlich und notwendig, die als Rechtfertigung zum Erhalt und zum Mitmachen eines gewalttätigen Systems taugen, genauso wie das Mantra “Es war schon immer so.” So hat Sklaverei funktioniert; auf dieser Basis sind Frauen im Patriarchat Menschen zweiter Klasse, und alle andern Lebewesen haben für die Menschheit da zu sein. Der Karnismus ist nicht nur eine grausame und lebensverachtende, sondern auch eine unglaublich zähe Ideologie, die unsere ganze Gesellschaft durchzieht und ein weithin unsichtbares Glaubenssystem, das durch die Mythen von Normalität, Natürlichkeit und Notwendigkeit tierlichen Konsums gestützt wird. “Es gehört zum Prinzip gewalttätiger Ideologien, dass sie Erfindungen als Tatsachen ausgeben und jedes kritische Denken zu unterbinden versuchen, das diesen Umstand ans Tageslicht zu bringen droht”, schreibt Joy.
Was ist schon normal? Alles, woran die Mehrheit, der sog. mainstream, sich gewöhnt hat. Man gewöhnt sich an alles, mußte ich mir schon in meiner Kindheit anhören. Häufig ist aber gerade die Normalität barbarisch. “Gewohnheit versöhnt die Menschen mit jeder Gräueltat.”, ist die Schlussfolgerung. Was als natürlich gilt, ist gerechtfertigt, es kann nur so und nicht anders sein. “Das ist der Lauf der Dinge, die Natur ist grausam.” Solche und ähnliche Sprüche verkennen, dass naturalisierte Verhaltensweisen konstruiert sind und, schreibt Joy, “es überrascht nicht, dass sie von denjenigen konstruiert werden, die sich selbst an die Spitze einer sog. “natürlichen Hierarchie” setzen. Der Glaube an biologische Überlegenheit rechtfertigt Gewalt seit Jahrhunderten.
Frauen sind, heißt es, “von Natur aus” zum Eigentum des Mannes, einige Tierarten “von Natur aus” zum Essen bestimmt. Laut dieser Ideologie von “Natürlichkeit” steht der Mensch bzw. der Mann an der “Spitze der Nahrungskette”. Dazu Melanie Joy: “Doch eine Kette hat per definitionem keine Spitze – und wenn sie eine hätte, dann stünden dort Karnivoren (reine Fleischfresser wie Katzen) und nicht Omnivoren (= Allesfresser wie Menschen, die Fleisch nicht essen müssen). Und das weist auf den 3. Mythos, die angebliche Notwendigkeit, hin. Es ist inzwischen hinlänglich bewiesen, dass wir keine tierlichen Nahrungsmittel brauchen, um gesund zu leben. Dass Inuit in Grönland darüber lachen würden, ist klar, sie brauchen Fleisch, um zu überleben. Aber dass unsere Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Kindergärten, Kantinen und Kureinrichtungen, also mithin Orte der Heilung und Gesundung, immer noch dem Karnismus anhängen (natürlich ohne das so zu benennen) ist ein Skandal, gegen den es viel zu wenig Widerstand und Protest gibt. Es ist schon verrückt: In Kindergärten wird vermieden, Schweinefleisch aus religiösen Gründen anzubieten, aber auf die Idee, dass es viel vernünftigere Gründe gibt, kommt man nicht: Im Durchschnitt wird den Kindern mindestens an drei Tagen Tierisches serviert, und auf pflanzliche Yoghurts, Aufstriche und Getränke wird in der Regel ganz verzichtet.
Ist uns das Schicksal der Tiere egal? Das würde sich mit dem seinerzeitigen Verhalten der Bevölkerung gegenüber den Nazi-Opfern decken: Das Foltern und Morden fand in ihrer unmittelbaren Nähe statt, man wusste oder ahnte es zumindest – und blieb untätig. Allerdings drohte Denunziation, Folter und Mord. Feigheit und Angst sind sicher nicht zu unterschätzen. Aber was steht heute auf dem Spiel?
Liebe Frauen, liebe feministische Frauen, liebe radikalfeministische Frauen! Vielleicht fragt ihr euch, warum ich diesen Abend unter den Titel “Was hat Radikalfeminismus mit Tieren zu tun?” gesetzt habe. Also:
- haben mich die RADFEMS eingeladen, eine Gruppe von Radikalfeministinnen, die ganz tolle Arbeit machen – viele hier kennen sie.
- ist mir aber erst viel später aufgefallen, dass die Formulierung möglicherweise Tierliebhaberinnen abschreckt, die mit Feminismus und schon gar nichts mit radikalem zu tun haben wollen. Was bedeutet für uns eigentlich Radikalfeminismus? Ganz einfach: Wir versuchen, an die Wurzel des Übels zu gehen, radix heißt lateinisch Wurzel, daher auch die Radieschen. Früher gab es bei den Grünen mal die offizielle Unterscheidung zwischen Fundis und Realos. Wir gehören also zu den Fundis – es geht um eine fundamentale Veränderung; wir geben uns nicht mit klein-klein-Reformen ab. Und das ist nicht etwa übertrieben oder “extrem”. Die herrschende Realität ist es; die Verachtung von Frauen und Tieren, der Hass auf sie und die grausame Verfügungsgewalt über Weiblichkeit und ihre unerschöpfliche Kraft. Was ist das Übel? Eine zutiefst lebensfeindliche Welt, in der relativ wenige Menschen auf Kosten aller anderen Lebewesen leben. Natürlich gehören die Natur und all ihre Reserven dazu – das ist durch die Klimabewegung unstrittig.
- gibt es in der Natur immer weniger Tiere, in Schlachthäusern immer mehr. Gehören die auch dazu? Selbstverständlich, finde ich. Wir wissen, dass die meisten Tiere nur für Menschen produziert werden, und das in der Regel nicht, weil es nichts anderes gibt, was die Menschheit am Leben halten kann. Merkwürdigerweise kam und kommt das bei Massenbewegungen wie z.B. “fridays for future” selten zur Sprache. Es ging und geht immer um die Zukunft, aber meistens nur um die der Menschheit.
- gibt es zum Glück inzwischen zwar viele Gruppen und Vereine, die die Millionen und Milliarden Tiere (das Morden in den Meeren umfasst sogar Billionen Tiere) in ihre Überlegungen und Aktionen, in ihren Kampf mit einbeziehen. Und auch eine Menge Frauenorganisationen sind aktiv – für und mit uns Frauen. Aber so verdammt wenige berücksichtigen und verbinden beide(s)!
- finde ich das aber absolut naheliegend. Und ich meine als tierliebende Großstadtfeministin nicht, dass ich nur Katzen und Hunde und andere als sog. Haustiere gehaltene aus der Nähe, sondern auch Hühner, Kühe, Schweine, Puten, Gänse und Kaninchen aus der Ferne mag, und nicht nur die supermatriarchalen Hyänen, Bonobos und Elefanten, oder auch Affen, Löwinnen und Zebras in der sehr entfernten Ferne.
- folgt daraus, dass ich den Kampf für die Befreiung von Frauen und Tieren zusammendenke und auch in mein Handeln einbeziehen will. Gleichgesinnte sind aber offensichtlich rar gesät. So schreibt z.B. die Feministische Partei-Die Frauen, mit deren Programm ich sympathisiere: “Die globale Entwicklung im landwirtschaftlichen Bereich geht weltweit insbesondere zu Lasten der Frauen.” und “Ausschließlich die ökologische Landwirtschaft darf gefördert werden… Dabei muss auf artgerechte Tierhaltung geachtet werden.” Hier wird nicht geklärt, was unter “artgerechter Tierhaltung” zu verstehen ist. Aber natürlich ist diese Partei nicht die einzige, die sich dieses schwammigen Begriffs bedient. Was die Partei Mensch, Umwelt, Tierschutz, die leider auch noch nicht über die 5%-Hürde kam, zur Tierhaltung schreibt, finde ich vorbildhaft. Ihr könnt es hier nachlesen.
2017 zog ich für ein Jahr zum Land der Tiere und kam als 64jährige Radikalfeministin mit der jungen veganen Tierrechtsszene zum ersten Mal in Berührung. Zum Glück konnte ich mich nützlich machen, indem ich mehrmals wöchentlich kistenweise aussortiertes Gemüse und Obst aus dem Supermarkt im Nachbarsort heranschaffte, sortierte und verteilte. Zäune bauen und Internetseiten pflegen konnte ich nicht. Ab und zu durfte ich auch ausmisten, putzen, Schafsköttel aufsammeln – alles ziemlich harte körperliche Arbeit. In der Zeit las ich viel und suchte nach Büchern, um meine zwei Herzensanliegen – Frauen- und Tierrechte – auch theoretisch zu unterfüttern und zusammenzubringen. Ich fand ein einziges Buch von 1990, “The Sexual Politics of Meat”, auf deutsch “Zum Verzehr bestimmt – eine feministisch-vegetarische Theorie” von Carol J. Adams, einer engagierten Theologin aus den USA. Unglaublich, dass es bis heute das einzige geblieben ist, das ich dazu gefunden habe.


Der von Iris Radisch herausgegebene Band von 2011 “Wir haben es satt! Warum Tiere keine Lebensmittel sind” zum Beispiel veröffentlicht darin nur zwei Texte von Frauen bei insgesamt 32! Und an dem wunderschönen, einmaligen Gedächtnisort, den Pro Animale in Polen eingerichtet hatim Gedenken an die unzähligen Opfer der Massenvernichtung, führt ein Parcours durch den Garten an 82 Tafeln vorbei, auf denen Aussprüche berühmter Personen eingraviert sind – leider sind nur vier davon weiblich: Luise Rinser, Rosa Luxemburg, die unbekannte Tierschützerin Gianna Kellenberger und die englische Ärztin und Frauenrechtlerin Anna Bonus Kingsford, geboren 1846, die mit nur 41 Jahren an Tuberkolose starb. Folgendes habe ich im Internet gefunden: 1873 begann sie, Medizin und Philosophie zu studieren, vor allem, um mehr über die Vivisektion, also über Tierversuche, zu erfahren und besser gegen sie argumentieren zu können. Sie war die zweite Frau in England mit einem akademischen Grad in Medizin, und das, ohne die vorgeschriebenen Tierversuche gemacht zu haben. Ihre Dissertation über das Themengebiet des Vegetarismus erschien 1881 in Buchform unter dem Titel The perfect way in diet. Sie führte ihre eigene Praxis. Von ihr hatte ich noch nie gehört. Ich schlage vor, dass diese drei Zitate jetzt vorgelesen werden.
Es haben aber noch andere Frauen im Laufe der Jahrhunderte für Frauen und Tiere gleichermaßen gekämpft, so zum Beispiel die Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft, die bereits 1792 mit 32 Jahren in ihrem bahnbrechenden Werk “Verteidigung der Rechte von Frauen” die Rechte von Kindern und Tieren mitberücksichtigte. Kurz vor ihrem Tod gebar sie ihre Tochter Mary, die als Schriftstellerin Mary Shelley, berühmt wurde durch ihren Roman Frankenstein, ein Geschöpf, das sich rein pflanzlich ernährt. In der umfangreichen feministischen Datenbank von Luise Pusch tauchen unter den Stichwörtern Frauen- und Tierrechtlerin bisher leider nur zwei Frauen auf: das Paar Anita Augspurg und Lida Gustava Heimann. Das war mir natürlich aus der Emma bekannt, die dankenswerterweise auch andere Suffragetten vorstellt, die sich nicht nur dem Kampf für Frauenwahlrecht und Frauenbefreiung, sondern auch dem gegen Sklaverei und für die Tierbefreiung verschrieben. Carol Adams geht noch weiter in die Geschichte zurück und entdeckt Frauen, die sich bereits im 17. Jahrhundert für eine vegane Ernährung einsetzten verbunden mit ihrem Einsatz für Frauenrechte, und zwar mit denselben Argumenten: Männliche Vorherrschaft, Unterdrückung und Kontrolle machen Frauen und Tiere gleichermaßen zu Objekten. Nicht nur Tiere werden konsumierbar gemacht, sondern auch Frauen, z.B. in der Prostitution, aber beileibe nicht nur dort.
Ich hatte ja zu Beginn des Vortrags davon gesprochen, dass der Mann sich seit Jahrtausenden über alle anderen Lebewesen stellt, um sie nach seinen Maßgaben zu beherrschen und zu missbrauchen. Carol Adam hat auf ihrer Website mehr als 100 Beispiele aus der amerikanischen Werbung gesammelt, die die Verachtung von Frauen und Tieren kombinieren. Sexistische Werbung kennen wir zur Genüge, und diese hier ist zudem noch speziesistisch.
Ich habe mich schon häufiger daran gestört, dass auch Feministinnen manchmal Abwertendes mit tierischen Begriffen bezeichnen, so z.B. “Der Mann hat sich benommen wie ein Schwein!” “Bitte beleidige doch die Schweine nicht”, werfe ich dann ein. Carol Adam kritisiert und analysiert genau diese Fortführung patriarchaler Gewalt in der Sprache und in Bildern. Und sie kommt zu dem Schluss, dass die Abschaffung von tierlichen Nahrungsmitteln eine massive Bedrohung für die patriarchale (Un)Kultur darstellt. Dazu analysiert sie auch feministische Literatur, z.B. von Virginia Woolf, bell hooks, Mary Daly, Andrea Dworkin und Alice Walker. Ich kenne viele aus gesundheitlichen und aus ethischen Gründen überzeugte Vegetarierinnen. Manchmal folgen sie aber der herrschenden Unlogik, als wären Fische nicht auch Tiere.
Wenn Fleisch ein Symbol männlicher Herrschaft ist, dann ist es die Kontrolle über die Reproduktionsfähigkeiten der weiblichen Tiere selbstverständlich ebenso. Carol Adams hat ihr Buch vor 35 Jahren geschrieben und sie nennt es “The Sexual Politics of Meat”, also wörtlich die Sexualpolitiken des Fleisches”. Unser Thema habe ich erweitert, weil alles, was von weiblichen Tieren erbeutet wird, dazugehört: alle Milchprodukte und das, was Milliarden Hühner dieser Welt aus sich herauspressen: Eier. Frauen essen zwar viel weniger Fleisch als Männer. Käse, Eier, Joghurt, Quark und Butter wird aber immer mehr gegessen. In Deutschland sind es pro Jahr 1,1 Milliarden Bioeier, nur Bioeier! Bioeinkauf ist eine gängige Art moralischer Absolution ähnlich dem Ablasshandel zu Luthers Zeiten.
Die geschlechtsspezifische Ausbeutung der weiblichen Tiere, also vor allem der als Milchkühe sexualisierten Rinder und der als Legehennen sexualisierten Hühner, speist sich aus ein und der selben Quelle wie die Ausbeutung von Frauen; der patriarchalen Herrschaft über Leben und Tod. (langes Zitat Hilal Sezgin: Artgerecht..”) Bevor wir zum Abschluss einige Aufnahmen zeigen von Frauen des Vereins “Rettet das Huhn”, die inzwischen 146.264 Hühner gerettet haben – jedes Jahr sind es 12.000 – möchte ich mich für eure Aufmerksamkeit bedanken in der Hoffnung, dass ich deutlich machen konnte, warum der Kampf für die Befreiung von Frauen und von Tieren zusammengehört.
Anmerkung
Die vegane Bewegung hat sich wie so vieles zu einer männlichen entwickelt in dem Sinn, dass kaum Bezüge zu feministischen Befreiungsbewegungen hergestellt werden und umgekehrt Feministinnen sich auch selten ihr anschließen. Sie ist noch jung, und vor allem junge Leute nutzen natürlich die Chancen des Internets, um ihre Anliegen zu verbreiten. Daraus entstanden aber nicht nur die wichtigen Dokumentationen über das Elend der Tiere, sondern auch zunehmend ein kommerzieller Lifestyle-Veganismus, der das tausendste Kochbuch, mit dem noch Kohle gemacht werden kann, präferiert gegenüber mühsamer Überzeugungsarbeit, die keinen Cent einbringt. Die ethischen Beweggründe, die Tierrechtlerinnen ursprünglich motiviert haben, reichen mehrere Jahrhunderte zurück. Es ging und geht dabei immer in erster Linie um eine respektvolle Beziehung zu Tieren, die das Töten und Benutzen ohne Not ausschließt, und auch großenteils um die grausamen Versuche an lebenden Tieren, die immer noch nicht abgeschafft sind. Selbstverständlich sind auch heute Moral und Ethik treibende Kräfte. Manchmal beschleicht mich aber der Gedanke, dass Wortführer einen Personenkult betreiben, der auch wieder auf angesagter Männlichkeit basiert.
– Maria Schmidt, 20.03.2025