Discussion & Action Stellungnahme zum Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) 2023

Mai 2023

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Diese Stellungnahme wird mit Zustimmung der Autorinnen veröffentlicht, von denen einige Mitfrauen des Radfem Kollektiv Berlin sind.

wir sind eine Gruppe von Feministinnen aus Berlin. Als Mitglieder verschiedener feministischer Netzwerke und Organisationen haben wir letztes Jahr begonnen, monatliche radikalfeministische Diskussionen zu veranstalten. Unsere Diskussionssprache ist Englisch, da viele von uns Migrantinnen sind und noch nicht fließend Deutsch sprechen. Wir möchten mit Ihnen die Probleme teilen, die wir in dem vorgeschlagenen Referentenentwurf zur Selbstbestimmung des Geschlechts sehen. Wir senden Ihnen eine deutsche Übersetzung unserer Anmerkungen zu diesem Thema, das wir alle sehr ernst nehmen.

Der Referentenentwurf ist inkohärent, inkonsistent und vage. Ein solches Gesetz muss klar und transparent sein, um dem Wohl und Schutz der betroffenen Personengruppen zu dienen.

Es gibt keine Definitionen für:

  • Geschlecht: Während der Referentenentwurf die biologische Geschlechtszugehörigkeit in einigen Fällen anerkennt (Mutterschaft, Medizin, Verteidigungsfall), wird der Begriff “Geschlecht” selbst nicht definiert. “Geschlecht” ist allerdings eine geschützte rechtliche Kategorie nicht nur im §3 GG, sondern auch im AGG.

Laut Duden bezeichnet das Geschlecht „die Gesamtheit der Merkmale, wonach ein Lebewesen in Bezug auf seine Funktion bei der Fortpflanzung meist eindeutig als biologisch männlich oder weiblich bestimmt werden kann“.

  • Geschlechtsidentität: Ziel des Selbstbestimmungsgesetzes ist es, die Selbstbestimmung durch die personenstandsrechtliche Anerkennung einer subjektiv wahrgenommenen “Geschlechtsidentität” zu stärken. Damit wird eine neue rechtliche Kategorie geschaffen, die im Gesetz selbst nicht definiert wird. Auch der Duden führt den Begriff “Geschlechtsidentität” nicht. Wir beziehen uns deshalb auf die Definition von “Geschlechtsidentität” auf der Website des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Während “Geschlecht” objektiv feststellbar ist, beruht die “Geschlechtsidentität” eines Menschen also auf einer rein subjektiven Wahrnehmung. Es handelt sich um zwei völlig unterschiedliche Konzepte, die nicht beide die grundlegende Kategorie für das personenstandsrechtliche Geschlecht bilden können.

Der Referentenentwurf argumentiert mit der Notwendigkeit einer Anerkennung der Geschlechtsidentität, ändert aber das Gesetz zur Bestimmung des (personenstandsrechtlichen) Geschlechts, dem eine Person angehört. Das bedeutet also, dass die “Geschlechtsidentität” rechtlich wichtiger und maßgeblicher wird als die biologisch und objektiv definierbaren Geschlechtsmerkmale.

Infolgedessen ändert dieser Referentenentwurf nicht nur ein Verfahren für Menschen, die in der Gesellschaft akzeptiert werden wollen, sondern er verwischt direkt die rechtliche Definition des Geschlechts und macht sie politisch zweideutig. Die Lösung des personenstandsrechtlichen Geschlechts vom biologischen Geschlecht war zwar bereits mit dem Transsexuellengesetz möglich, allerdings waren die damit verbundenen Hürden so hoch, dass die Zahl der Betroffenen relativ gering blieb. Das Selbstbestimmungsgesetz wird das Verfahren derart vereinfachen, dass die Konsequenzen in der Öffentlichkeit häufiger zu spüren sein werden.  Zu den Folgen gehören unter anderem die Möglichkeit medizinischer Fehlbehandlung für Menschen mit geändertem personenstandsrechtlichem Geschlecht, aber auch Auswirkungen auf Frauenstrukturen und Frauenräume, Quotenregelungen sowie Fairness im Sport.

Unter Bezugnahme u.a. auf eine Befragung der NGO Transgender Europe stellt der Referentenentwurf fest, es habe bisher keine negativen Auswirkungen in Ländern mit ähnlichen Gesetzesänderungen gegeben. Dagegen stehen zahlreiche Beispiele aus Ländern wie beispielsweise Kanada, USA oder Großbritannien, die zeigen, dass sich männliche Straftäter Zugang zu Frauenhäusern, Frauenbereichen in Krankenhäusern sowie Frauengefängnissen verschafft haben.

Der Referentenentwurf lässt auch offen, inwiefern Frauen mit einer trans- oder nonbinären Identität rechtlich geschützt sind und ob ihnen, falls sie einen geänderten Personenstand haben, spezifische Hilfsstrukturen und -angebote weiterhin offenstehen.

Die rechtliche Anerkennung der ‘Geschlechtsidentität` einer Person als ‘Geschlecht’ vermischt nicht nur die beiden Begriffe und macht das rechtliche Geschlecht zu einer Kategorie von sowohl Geschlecht als auch Geschlechtsidentität, sondern verfestigt auch eine gesellschaftliche Situation, die dem Ziel des Referentenentwurfs zuwiderläuft. Der Referentenentwurf zielt darauf ab, parallel zu den Rechten des Grundgesetzes zu wirken: “freie Entfaltung der Persönlichkeit, Achtung der Privatsphäre und Nichtdiskriminierung”.

  • Die freie Entfaltung der Persönlichkeit wird durch das Konzept der Geschlechtsidentität eingeschränkt, weil dadurch Geschlechtsstereotypen und -rollen rechtlich anerkannt und bestätigt werden. Das Bewusstsein eines geschlechtsspezifischen Körpers schränkt die freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht ein, aber die Anerkennung von Verhaltensweisen und Geschlechtsausdruck als Teil des Geschlechts einer Person ist ein einschränkendes Konzept, insbesondere für junge Menschen. Die Persönlichkeit eines Menschen sollte sich frei von bereits hierarchisch strukturierten Geschlechterrollen und gesellschaftlichen Auffassungen von Geschlecht (was Feministinnen Gender nennen) entwickeln können. Dieser Referentenentwurf ist in dieser Hinsicht politisch konservativ und drängt die Menschen dazu, eine Identität anzunehmen, die auf dieser gesellschaftlich konstruierten Hierarchie basiert. In jedem Fall ist die Persönlichkeit nichts, das gesetzlicher Regelung oder offizieller Anerkennung bedarf.
  • Die Achtung der Privatsphäre wird durch diesen Vorschlag ebenfalls negativ beeinflusst. Während die Privatsphäre einiger Personen durch das Recht, ihr Geschlecht geheim zu halten, gesetzlich geschützt und respektiert wird, wird dagegen Frauen, die sich reine Frauenräume wünschen und diese brauchen, diese Privatsphäre verwehrt.
  • Die Nichtdiskriminierung wird in ähnlicher Weise auf die subjektiven Gefühle oder Überzeugungen von Einzelpersonen ausgedehnt, während sie für die Hälfte der Bevölkerung eingeschränkt wird. Es ist bereits weltweit zu beobachten, dass mit oder auch ohne ähnliche Gesetze Frauenquoten und Ausnahmeregelungen in Bezug auf den Frauenschutzräume und -strukturen, die Teilnahme am Sport, die Vertretung im sozialen und wirtschaftlichen Leben und in der Politik umgewandelt und reduziert wurden, um auf der Grundlage der “Geschlechtsidentität” geregelt zu werden. Diese Ausnahmeregelungen hätten eigentlich ausschließlich für Frauen gelten sollen, so wie sie konzipiert sind. Die historischen Errungenschaften und hart erkämpften Rechte der Frauen wurden zurückgedrängt, und mit den neuen Gesetzen wird dies nun gesetzlich bestätigt. Dies ist bereits eine Diskriminierung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts.

In dem Referentenentwurf wird erwähnt, dass es Fälle und Räume gibt, in denen weibliche Personen bestimmte Rechte und Bedürfnisse haben, aber sie werden gesetzlich nicht garantiert. Es wird nicht erläutert, wie das Geschlecht rechtlich bestimmt wird, wenn das gesetzliche Geschlecht bereits entsprechend einer subjektiv empfundenen Identität geändert wird. Unter diesen Bedingungen wird die Verantwortung als reine Frage des “Hausrechts” auf die Institutionen, Unternehmen oder Einzelpersonen selbst übertragen. Das bedeutet, dass sich der Staat aus der Verantwortung zieht. Im Falle einer geschlechtsspezifischen Diskriminierung gibt es keine Rechtsgrundlage mehr, um die Rechte der in diesem Land lebenden Frauen zu garantieren.

Die Akzeptanz des Konzepts der Selbstbestimmung des Geschlechts fördert ein neues Verständnis von Geschlecht in der Gesellschaft, das nicht mehr auf der Grundlage der reproduktiven Anatomie des Körpers definierbar ist, sondern durch unsere Vorstellungen bestimmt wird und als ein rein persönlich definiertes Konzept verstanden werden sollte. Mit diesem Referentenentwurf werden also die dualistischen und hierarchischen Vorstellungen über das Geschlecht, die von den Individuen übernommen werden, zur Grundlage für die Selbstbestimmung im Gesetz. Die Menschen sollten frei sein, jede Meinung oder Glaube zu vertreten und ihre eigene Persönlichkeit um sie herum zu gestalten. Diese subjektiven Wahrnehmungen können und sollten oft als Meinungen oder Überzeugungen vor Diskriminierung geschützt werden. Die Gesetze selbst sollten jedoch auf materiellen Fakten und nicht auf subjektiven Wahrnehmungen beruhen.

Wir stellen fest, dass der Gesetzesentwurf “keine” Alternative vorsieht. Der Referentenentwurf wurde als die einzige und beste Lösung für ein gesellschaftliches Problem dargestellt. Trotz seiner grundlegenden Mängel hätte zum Beispiel die “Geschlechtsidentität” als neue Kategorie mit einer klaren Definition vorgeschlagen werden können, um Diskriminierung zu verhindern. Wie die Religion kann sie rechtlich geschützt werden, ohne dass jeder Einzelne an diese Identitäten glauben muss.

Auch dieser Ansatz der “Alternativlosigkeit” ist Ausdruck einer sehr vereinfachenden und polarisierenden Entweder-Oder-Logik. In den Verweisen findet sich keine Kritik an der Selbstbestimmung des Geschlechts, obwohl es viele aus verschiedenen politischen Richtungen gibt. Keine Nuancierung ist erlaubt. Wir möchten hinzufügen, dass wir als Feministinnen diese Haltung verurteilen und sie in keiner Weise mit politischen Ideen der Befreiung in Verbindung sehen.

Wir stellen weiterhin fest, dass die vom Referentenentwurf behauptete „Alternativlosigkeit“ in höchstem Maße kontraintuitiv zu dem für das deutsche Recht so zentralen Verhältnismäßigkeitsprinzip ist. Wir teilen nicht die Überzeugung, dass der Referentenentwurf in dieser Form absolut „erforderlich“ im Sinne der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist, also keine Alternativen hat, die einen weniger belastenden Eingriff in Grundrechte darstellen. Die Vorstellung, dass nichts weniger als eine vollständige Billigung einer inkohärenten juristischen Fiktion (Gender-Selbstidentifikation) in allen Bereichen des Rechts und der Politik ausreichen kann und dass dieses Gesetz einen vertretbaren Eingriff in die Grundrechte der Frauen darstellt, ist unglaubwürdig. Wir halten es für inakzeptabel, dass als Alternative zur völligen Neuordnung des Rechtsstatus keine vernünftigen Schutzmaßnahmen in Betracht gezogen werden, wie dies bei der Selbstidentifizierung vorgeschlagen wird.

Im Namen der in Berlin ansässigen Gruppe Discussion&Action
Güleren Eren, Yuxin Lu, Hannah Weber
rad.discussionandaction@gmail.com

Leseempfehlungen:

DE
Raus aus dem Genderkäfig! Der Kampf um Frauenbefreiung im 21. Jahrhundert – Manuela Schon
Von Frauenforschung und Frauenstudien zu Gender Studies – Veronica Bennholdt-Thompson

EN
On the Meaning of Sex: Thoughts about the New Definition of Woman – Kajsa Ekis Ekman
The Political Erasure of Sex – Jane Clare Jones


Discussion & Action Statement on the Self-Determination Act (SBGG) 2023

May 2023

This statement is published with the consent of the authors, some of whom are members of Radfem Kollektiv Berlin.

We are a group of feminists based in Berlin. Being part of various feminist circles, last year we also started carrying out monthly radical feminist discussions. Our discussion language is English as many of us are migrants and not fluent in German yet. We would like to share with you the problems we see in the proposed Self Determination of Sex Bill. We send you a German translation of our notes on this subject which we all take very seriously.

The bill is incoherent, inconsistent, and vague. Such a bill needs to be clear and transparent if it is done for the wellbeing of people.

There are no definitions of:

  • Geschlecht: In some parts the bill explains the biological distinction and the need on the basis of it but there is no clear definition of sex. We note that it was possibly not much defined in law as that was clear to people before. Where it was in issue as in Article 3 of Grundgesetz, equality is between men and women and that was thought to be clear enough.
    A dictionary definition of it is as follows:
  • Geschlechtsidentität: The law is supposedly prepared for or because of the acknowledgment of a person’s subjectively perceived ‘gender identity’ but this is not defined. We take the definition of gender identity made in the website of Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung as a manifestation of the concept’s subjectivity.

We argue that, if the definitions are precisely made, it is possible to see that Geschlecht can not be acknowledged in the same category with Geschlechtsidentität so that this bill is fundamentally incoherent.

The bill argues the need for an acknowledgement of ‘Geschlechtsidentität’ but it amends the law on the determination of the ‘Geschlecht’ to which a person belongs. So that means that ‘Geschlechtsidentität’ is overriding the becomes more important and definitive than the biologically and objectively definable characteristics in law.

As a result, this bill does not change only a process for people who want to be accepted in society, it directly blurs the legal definition of sex and renders it politically ambiguous. It might be argued that it has already been happening with the Transsexuellengesetz. That is also true but a minority group trying to adapt to the societal norms had been offered a conservative solution to change their legal sex to match their gender expressions according to sex stereotypes in life and they had to go through a process for the sake of themselves and the law to show that their motivation is genuine. So the numbers were relatively small despite the consequences. This bill will make the process easier, so the consequences will be experienced in public more often. The consequences include medical emergencies for the people who change their legal sex and for the women who need or wish to be in women-only refuges and  spaces. It might as well have a negative effect on female representation in public life.

The legal acknowledgment of a person’s “Geschlechtsidentität” as “Geschlecht” not only conflates the two concepts and makes the legal sex a category of both sex and gender identity, but also it reinforces a social situation contrary to the aim of the bill. The bill aims to act in parallel to the rights in Grundgesetz: “the free development of personality, respect for privacy, and non-discrimination”.

  • The free development of personality is limited by the concept of gender identity because with its existence sex stereotypes and roles are legally acknowledged and validated. The consciousness of a sexed body does not limit the free development of personality but the belief and acknowledgements of behaviours and expressions are a part of a person’s sex is a limiting concept especially for young individuals. The personality of a person should be able to develop free from already hierarchically structured sex roles and social understandings of sex (what feminists call gender). This bill is politically conservative in that matter and urges people to embrace an identity based on this socially constructed hierarchy. In any case, personality should not be something to be acknowledged or regulated by law.
  • Respect for privacy is also negatively affected by this proposal. It gives a group of people a right to officially conceal their sex in case they are subjected to discrimination and harassment because they don’t fit sex stereotypes. On the other hand, according to the proposal,  half of the population -female people as we know them- does not seem to deserve the respect for privacy in women-only spaces that they might need and wish.
  • Non-discrimination is similarly extended to the subjective feelings or beliefs of individuals while it is reduced for half of humankind. It is already observed worldwide that with or even without similar laws, women’s quotas and exemptions concerning intimate spaces, participation in sports, representation in social and economic life and politics have been transformed and reduced to be regulated on the basis of ‘gender identity’. These exemptions should have been exclusive to female people as they are designed. There has been a backlash to women’s historical achievements and hard-won rights and with new laws, it is going to be legally validated. This itself is a discrimination against women on the basis of sex.

The bill mentions that there are cases and spaces where female people have certain rights and needs but they don’t guarantee them. No explanation is made on how sex will be legally determined if the legal sex is changed according to a subjectively perceived identity already. In these conditions, the responsibility is given to the institutions, companies or individuals themselves. This means that the state strips itself from the responsibility. In case of the occurrence of sex-based discrimination, no legal basis is left to guarantee the rights of the women living in this country.

The acceptance of the concept of self determination of sex, pushes a new understanding in society that sex is not definable on the basis of the reproductive anatomy of the body, but is determined by our ideas and it should be understood purely as a personally defined concept. So with this bill, the dualistic and hierarchical ideas around sex which are absorbed by individuals become the basis of self determination in law. The people should be free to hold any idea or belief and shape their own personalities around them. These subjective perceptions may and often should be protected against discrimination as opinions or beliefs. However, the laws themselves should be based on material facts, not any subjective perception.

We observe that any possible alternative was not mentioned in the proposal, a clear line was drawn by the word “Keine”. The bill has been presented as the one and only and best solution for a societal issue. For instance, despite its fundamental flaws “Geschlechtsidentität” could have been suggested as a new category with a clear definition to prevent discrimination. Like religion, it can be under legal protection without the need of every single person believing these identities.

This approach of “no alternatives” is also a manifestation of a very simplistic and polarizing either/or logic. No criticism of self determination of sex is to be found in references although there are many from various political origins. No nuance is allowed. One can only be Pro and good, or Anti and bad. This is in line with current popular political attitudes in which any alternative or criticism is to be denigrated without interaction. We would like to add that we condemn this attitude of domination as feminists and we do not see it in any way related to political ideas of liberation.